Rote Raben

Der folgende Text ist für einen Werkkatalog eines Freundes, der in Paderborn geboren und ansässig ist.


Der erste Schritt aus dem heimischen Paderborn landete in einem Vogelkäfig.

In dem Käfig lebte Manfred zu der Zeit, als er Gast an der Kunstakademie Düsseldorf war und beim britischen Bildhauer Tony Cragg in Wuppertal hospitierte.

Man betrat den Käfig, indem man auf die Knie ging und durch die Eingangstür in die untere Ebene rutschte. Also, man kroch da so durch. Schuhe im Sitzen aus- oder im Liegen abziehen.

Ich erinnere es als ausgebaute Garage, in der Front Türen und Fenster. Manfred hatte auf der halben Höhe einen Zwischenboden eingezogen. 1,20 oder 1,30 Meter fürs Erdgeschoss, 1,30 Meter für den ersten Stock.

Die Garage hatte vielleicht 5, 6 Meter in der Tiefe. Man bewegte sich auf allen Vieren. Im Erdgeschoss Kleiderschrank und Platz für andere Sachen. Dann kam man zur Klappe in die obere Etage. Aufgeklappt, war dies der einzige Ort, in dem man aufrecht stehen konnte.

Oben waren die Vögel. Es waren die, die er in Paderborn nicht zurücklassen mochte. Die Vögel waren da, sie hatten den Raum, und das Atelier war auch da. Das Arbeiten geschah im Sitzen, im Hocken, im Kriechen. Sich treffen, sich unterhalten, Kaffee mit Kondensmilch trinken. Im Hocken, im Liegen.Rauchen. Wir waren jung.

Ich glaube, da war eine Matratze. Wo war die Toilette, wo die Küche? Waren es Kanarienvögel oder rote Raben? War die braunäugige Griechin Aphroditi wegen der Vögel gekommen? Es waren die 80er.

Es war die Zeit, als ein Großbrand auf dem Betriebshof der Firma Sandoz den Rhein vernichtete, stinkende Fische gab es hunderttausendfach an den Ufern.

Es war die Zeit, als Manfred ein Wasserkleid schneidern ließ, aus Fotopapier, Wassermotive in Schwarz und Weiß, ich entwickelte sie in meiner Dunkelkammer. Er trug das Kleid in Düsseldorf am Tag nach dem Unfall. Er schenkte gereinigtes Paderwasser aus.

Der Arbeitsplatz war am Fenster, Wasser- und Futterstellen für die Vögel befanden sich im hinteren Teil. Nicht die Vögel waren im Käfig, sondern der Mensch. Umkehrung der Verhältnisse. Habitat für alle.

Es ist wohl so: Treffen wir auf offene Menschen, dann ist in ihrem Tun nichts Aufgesetztes, nichts Inszeniertes. Möge auch das, was sie tun, merkwürdig sein. In dem Fall spiegelt das werktägliche Verhalten etwas Größeres. Ohne übermäßig zu interpretieren, mag hier die Metapher stehen für eine Umkehrung der Verhältnisse in der Kunst.

Seit ich Manfred kenne, hat er Verhältnisse gedreht. Die Sache mit den Vögeln, das war kein ornithologischer Spleen, obwohl er mal eine Zeit allein auf einer Vogelinsel verbrachte. Ich denke, es war Empathie.

Was die Kunst betrifft, so besteht die Umkehrung im Berühren, im Bewegen, in der Mitwirkung. Vom Sockel geholt, angefasst und mitgestaltet, sind die Machtverhältnisse weniger gedreht, eher aufgelöst. Kein oben und unten, kein Sockel, kein Objekt. Kein Subjekt, das den Status des Besonderen genießt. Sondern der Raum entworfen und mit Skulptur belebt als gemeinsames Habitat.

Es ist ein reizender Kontrapunkt, dass im Moment, in dem ich dies schreibe, Cragg im Düsseldorfer Kunstpalast auf die lebenslange Passion des einstigen Schülers kommt und Kunst zum Berühren ausstellt. Der zwanzig Jahre Jüngere lotet seitdem die skulpturalen Möglichkeiten aus, lässt Skulpturen durch Berührung bewegen, gibt Raum, öffnet die Tür, lässt frei.

Manfred, zurück in Paderborn, arbeitet inzwischen in einem mobilen Container. Ich frage mich, was ist eigentlich aus den Vögeln geworden?

Bolschewiken (li.) planen den Umsturz, während die Intelligenzija (re.) Für- und Wider-Listen schreibt. Foto: Zobe, 1988.