Schneewittchen, Rot

Die Verkäuferin hinter dem Tresen trug ihre Kluft wie eine strippende Krankenschwester, weißer Kittel, zwei Nummern zu eng. „Das rothaarige? Kostet 200 extra!“ Ihre Stimme war mehr Ruß als Rauch. Sie blies einen schillernden Ballon durch ihre knallroten Lippen.  

„Das rothaarige!“, sagte ich. Sie schaute mit schweren Wimpern morgenträge in einen Monitor. „CJ Rot? Ist grad raus“, sagte sie. Sie nickte in eine Richtung. Ein dünner Mann zerrte einen sarggroßen Gegenstand Richtung Ausgang. „Das einzige?“, fragte ich. „Das letzte“, sagte die Verkäuferin. Ihr Blick traf mich, als sie den Ballon platzen ließ. „Rufen Sie nicht den Krankenwagen“, flüsterte ich. Dann lungerte ich zum dünnen Mann. 

Ihm schien es schlecht zu gehen, sein Gesicht war gelb. Ich beugte mich über den Karton, er hatte ein Sichtfenster wie die Verpackung einer Barbiepuppe. Ja. Da war sie. CJ Rot, Schneewittchen mit rotem Haar. Der Mund leicht geöffnet, der Blick frei von Blinzeln, in den Glasaugen spiegelte sich das Neonlicht und es sah aus wie die Sichel eine abnehmenden Mondes. Etwas strömte aus dem Karton, das nach Chanel Nr. 5 roch. 

Ich hob das andere Ende mit einem Ruck an. Der dünne Mann guckte wie ein Eichhörnchen nach dem Schuß. Seine Gesichtsfarbe war Orange. „Wohin“, fragte ich. „Tiefgarage, Minus 2, Platz 68“, sagte er. Aus Orange wurde Rot. Die Stimme schien aus dem Karton zu kommen. Dann bekam ich meinen epileptischen Anfall. 

Ich schaffte sogar Schaum vorm Mund und brach ab, als mir die Verkäuferin ins Gesicht schlug. Ihre Silikonbrüste dehnten das obere Knopfloch ihres Kittels. „Hören Sie mich? Kannst du mich hören?“ Ich nickte und bekam einen Heulkrampf und steigerte ihn zu einem Zustand von Raserei. Dann riss ich den Kartondeckel auf, riss Schneewittchen hoch, presste sie an mich und schrie „Rosi, Rosi, Oh Gott. Rosi“. So etwa und immer weiter, bis das „Rosi“ zu einem melancholischen Wehklagen abebbte.

Der dünne Mann war Grün, seine Pupillen starr. Es ging ihm schlecht. Die Verkäuferin malte mit den Unterkiefern und ließ das Kaugummi knallen.

„Sie ist tot“, sagte ich. Ich schüttelte den Kopf. Meine Tränen hatten CJ’s Makeup mit dem Lippenstift verschmiert. „Meine Frau ist tot.“ Das wiederholte ich ein paar mal und küsste CJ auf den Mund, immer wieder, mechanisch, meine Umwelt vergessend. Der dünne Mann sagte: „Kann ich… kann ich das stornieren?“. „Ist aber nicht mehr im Originalzustand“, sagte die Verkäuferin, ganz müde vor Gleichgültigkeit, und ging und ließ den dünnen Mann folgen. Ich stülpte den Deckel wieder drauf. Ich schätzte CJ’s Gewicht auf 45 Kilo, mit dem verstärkten Karton auf 50. Ich würde was zum Rollen brauchen. 

Rosi war wie immer phantastisch, wenn es einen neuen Gast gab. Sie kam vom Frisör, der Flaschenzug war eingehakt, überall Kerzen und Haschkekse. „Möchtest du einen?“. Ich biss ihr in den Hals und wuchtete CJ in den Rollstuhl, dann seilte ich sie ab und schob sie durch den Gang ins Lapidarium. Rosi hatte mit den anderen einen Halbkreis vor dem Kaminofen gebildet und den Platz neben Karl freigemacht. Im Ofen knackte Kiefer. Ich sog den Duft ätherischen Öls ein und tippte auf Thymian, was eine großartige Idee war, ein herber Kontrast zu Chanel. 

Dann kam sie im schwarzen Givenchy, schulterfrei und knöcheltief, und wir fragten Karl, wie er CJ Rot fände. Er antwortete nicht. Sie küsste mich und verrieb ihren Lippenstift auf meinem Mund. Das Feuer knisterte und Karls Stuhl schien sich um die eigenen Achse zu drehen und sein ausgestopfter Körper wippte im flackernden Schein des Feuers und er sah immer noch so schön und lebendig aus wie vor 13 Jahren und sie hörten ihn rufen, Mama, Papa, wo seid Ihr?