Schwer zu spät

Normalerweise geht niemand in eine Filmvorführung, die bald endet. Es kann passieren, etwa, wenn man zu früh ist und versehentlich in die letzten Minuten der vorherigen Vorführung platzt. Das mit dem Platzen ist inkorrekt, wie auch das Versehen. Denn wir hören ja die Töne, sehen auf die Uhr, nein, das kann noch nicht die Vorführung sein, in die wir wollen, und wir wollen ja auch nicht das Ende vorwegnehmen, uns selbst spoilern. Also, wenn, dann passiert das nicht versehentlich, dann gehen wir, wie ich gestern zu meiner eigenen Vorführung, bewusst da rein, und dann aus Rücksichtnahme natürlich mäuschenleise, wir platzen nie in eine Vorführung, wir huschen rein, setzen uns auf den nächst erreichbaren Stuhl, und bekommen den Schlussmonolog des Jungen mit, vielleicht ist er 13, 14, dieser schmächtige Junge mit den dunklen braunen Augen zeigt, wie der Mörder vorgegangen ist, wie er die Frauen umgebracht hat, demonstriert an seiner kleinen Schwester, die da liegt auf dem Boden, wie er das rechte Knie auf die Brust presst, und mit dem linken Arm den Mund zupresst und mit der Rechten dann das Kopftuch als Würgeschal nutzt und wie der Mörder die Frauen dann in den persischen Teppich wickelt und das ganze, vom Mord bis zur Entsorgung, hätte jeweils nur 2 Stunden gedauert, das sagt er, der Junge, so sachlich, und sein Schwesterchen, sechs Jahre, vielleicht sieben, kichert und sagt, ich bin tot. Und dann ist der Film zu Ende, zum Abschied die Musik, das Schweigen des Publikums, es sind, nachdem am Nachmittag sieben Zuschauer kamen, was mich überraschte, denn der Film, ein iranischer Film, ist nicht populär, ich hätte mit überhaupt niemandem bei diesem schönen Wetter gerechnet, es sind nur drei Leute jetzt in der Spätvorstellung, Vorführerin Charlotte inklusive, drei Leute, die da schweigen, aber eine schwere Niedergedrücktbetroffenheitswelle steht im Raum, ist dann, auch die Zeit vergeht nun langsamer als sonst, der Abspann tropft von der Leinwand, die Welle begibt sich langsam in Sinkflug, bleiern würde man sagen, wenn diesen Titel die Dörrie nicht verbrannt hätte, bleiern wie die Musik, sie steht auch als Welle, steht und sinkt, und scheint eine Musik zu sein, die im Gegensatz zu jeder anderen Musik dem Gesetz der Schwerkraft unterliegt, wo Musik sich sonst doch ausbreitet, frei, kaum aufhaltbar, nach oben und jede Ritze nutzend, doch jetzt und hier scheint sie sich selbst zu absorbieren.


Ich kannte den Film nicht, habe ihn quasi von der Papierform her ausgewählt, Jens-Hagen vertrauend, der die Filme einkauft für unseren Ring, aber die Übertragung der Emotion war so, dass ich mir sagte, ja, den musst du sehen. Später. Nicht heute. Irgendwann mal. Heute ist es spät. Heute lieber, wenn überhaupt, eine Komödie, etwas Leichtes. Überhaupt bin ich Freund des Leichten geworden und mache um das Schwere Bögen, wo mich das doch in früheren Zeiten anzog, je schwerer desto besser. Vielleicht ist so ein Verhalten eine Funktion der Lebenserfahrung, gewachsene Weisheit: Meide das Schwere, verbinde dich mit dem Leichten, lass das Leichte dich leichter machen, denn es ist ja nicht zu verwechseln mit dem Oberflächlichen. Auch unter jeder noch so hübschen Oberfläche ist Grund, manchmal tiefer als bei dem was schwer und tief daherkommt, und das haben Komödien mit schönen Frauen gemeinsam. Die Schönste, die ich kenne, sie ist eine der Tiefsten, und macht dir doch das Leben leicht.