Ritter ohne Namen

Ritter ohne Namen

Es war einmal ein Ritter. 

Er tat eine Reise. Als er zurückkam, begrüßte ihn seine Frau. Sie war schöner als je zuvor und strahlte als sie ihn nach so langer Zeit wiedersah. Ritter, sagte sie, ich liebe dich. Der Ritter nahm sie und schlief mit ihr ohne ein Wort. 

Als der Ritter am nächsten Morgen erwachte, war der Platz an seiner Seite leer und kalt. 

In der Küche brannte kein Feuer. 

Nur eine Kerze brannte. 

Die Kerze beschwerte ein Blatt Papier. 

Er nahm es, faltete es auf und las: nichts. 

Auf dem Blatt stand kein Wort. 

Der Ritter suchte im Garten, im Keller, in der Burg, im Dorf, auf den Feldern, in den Bergen und am Meer. 

Er suchte überall. 

Doch seine schöne Frau fand er nicht. 

Er suchte ohne Unterlass. Die Tage vergingen ohne Ergebnis. Die Monde vergingen ohne Ergebnis. 

Eines Abends traf er eine uralte Schildkröte. 

Er fragte, ob sie seine Frau gesehen hatte. 

Die Schildkröte sagte, sie wisse, wo sie sei. 

Der Ritter begehrte, dass die Schildkröte ihn zu seiner Frau führe. 

Die Schildkröte tat wie geheißen. 

Sie ging voran. Sie marschierten viele Stunden. 

Der Ritter fragte, ist es noch weit. 

Die Schildkröte sagte, es sei nur noch ein kurzes Wegesstück. 

Und sie marschierten weitere Stunden. 

Der Ritter fragte erneut. 

Die Schildkröte sagte, es sei nur noch ein kurzes Stück. 

So gingen sie weiter 

Bis der Ritter die Geduld verlor und der Schildkröte befahl, ihm einen Plan zu geben damit er seine Frau selbst fände. 

II 

Die Schildkröte tat wie geheißen.

Sie malte den Plan in den Sand. 

Der Ritter prägte sich den Plan ein, und kaum hatte er ihn in seinem Kopf, 

verschwand die Schildkröte und mit ihr der Plan im Sand. 

Der Ritter machte sich auf den Weg. 

Es dauerte nicht lange, da erreichte er das Ziel, eine alte Eiche in lichtem Walde, alt und hohl. 

Er stieg in den Baum. 

Doch seine Frau war nicht da. 

Die Enttäuschung des Ritters war groß. 

Da sprach der Baum und fragte den Ritter was er suche

Der Ritter sagte es. 

Da fragte der Baum was er der Frau mitbringe wenn er sie wieder sähe

Und der Ritter sah, er hatte nichts was er ihr hätte geben können. 

Mit gesenktem Kopf und verlorenem Mut ging er durch den Wald

nicht auf die Richtung achtend

und verirrte sich 

und ein Sturm kam auf 

er suchte Schutz unter einem großen Baum 

Da schlug der Blitz ein

und dem Ritter in seiner Rüstung half die Rüstung nicht

Er fiel um wie tot und lag da, drei Nächte und zwei Tage. 

Bis ihn die Waschbären fanden. 

Sie wuschen ihn, gaben ihm Wasser und so kam er zu Bewusstsein. 

Die Waschbären befragten ihn

doch er wollte nichts zu essen

noch irgendetwas sonst

Er wollte nur ein Geschenk für seine Frau. 

Die Waschbären waren die Händler des Waldes

Sie führten ihn zu ihrem Laden.

In den Zweigen einer Tanne hingen die schönsten Geschenke

Und der Ritter wählte eine Rose aus Gold. 

III 

Erneut suchte er die alte Schildkröte auf. Doch sie war nicht mehr da. 

Eine andere Schildkröte saß nun am Ufer des ewig murmelnden Waldbachs

und zählte die Wassertropfen, die vorbeiflossen. Sie ließ sich ungern unterbrechen. Es war die Enkelin der alten Schildkröte.

Der Ritter zeigte der Schildkröte die Goldene Rose und er erhielt nun den Plan zu einer Höhle. Darin fände er seine Frau. 

Der Weg dorthin war weit und beschwerlich. 

So tauschte der Ritter die Rose gegen ein Pferd und erreichte schon bald den Anstieg des Berges. 

Der Pfad wurde schmaler und das Pferd fiel und brach sich ein Bein. 

Der Ritter erlöste es mit seinem Schwert und stieg den Pfad nun zu Fuß weiter auf. 

Der Pfad endete und schmale Vorsprünge markierten den Weg zur Höhle, eine dunkle Öffnung weit über dem Kopf des Ritters. 

Er legte seine Rüstung ab, damit er besser klettern konnte und er kletterte den ganzen Tag bis zum Sonnenuntergang. Da hatte er das Plateau vor dem Höhleneingang erreicht. 

Doch er hatte keine Fackel. 

So schlief er erschöpft auf dem Felsvorsprung ein, und erwachte mit den ersten Strahlen der Morgensonne. 

Nun erhob er sich und betrat die Höhle. 

Schnell empfang ihn nachtgleiche Dunkelheit. 

Bald sah er nichts mehr und kam nur noch mit den Händen tastend voran. 

Er rief den Namen seiner Frau

Doch als Antwort kam nur seine eigene Stimme als Echo zurück. 

IV

Er verlor das Zeitgefühl. Erst kroch er auf allen Vieren, dann erhob er sich, mal kletterte er, mühsam tastend, mal schob er sich durch einen engen Gang von dem er nicht wusste ob er endete oder weiter führte. 

Nach vielen Tagen, in denen er von den Moosen und von der Feuchte der Felsen lebte, waren seine Sinne geschärft, er konnte im Tasten erkennen, und im Hören zeigten sich Bilder. 

Der Gang führte zu einer Weitung

und hier konnte er nach all dem sich zum ersten Mal wieder aufrichten und eine kühle angenehme Luft einatmen. 

Und wenn er in die Hände klatschte, dauerte es lange bis das Echo zurückschlug. 

Er war in einer großen Höhle, kathedralenweit, und er war sich sicher am Ziel zu sein. Die Beschreibung entsprach

Wieder rief er ihren Namen.

Doch es kam keine Antwort. 

So setzte er seine tastende Suche fort. Und nach einiger Zeit stieß er auf einen behauenen Stein.

Es war ein rechteckiger Quader wie sonst nirgends in der Höhle

und als er einen Sims erspürte in Brusthöhe schwang er sich hinauf.

Der Stein mochte zwei Schritt in der Breite messen und fünf Schritt in der länge und in 

der Mitte stießen seine aufgeschürften und bereits wieder vernarbten Hände auf einen Block aus Eis. 

Der Block aus Eis war länger als ein Menschenkörper und etwa so breit und tief. Sein Herz schlug nun so schnell wie nie zuvor in seinem Leben

Selbst beim Kampf gegen den Drachen war sein Pulsschlag niedriger geblieben.

V

Er tastete das Eis der Länge nach ab. 

Es war so kalt, dass seine Finger dran kleben blieben, wenn er zu lange an einer Stelle verharrte. 

Er rief erneut ihren Namen 

doch eine Antwort bekam er nicht. 

Er konnte das Eis nicht sehen, er konnte durchs Eis nichts riechen noch spüren. Er stellte sich vor seine Frau sei hier im Eis und fürchtete, dass es wahr sein könnte und fürchtete gleichzeitig dass es nicht wahr sei. 

So verließ er die Höhle, stieg hinab und suchte nach einem Ast, nach Hanf und Harz, für eine Fackel. 

Äste und Fichtenharz gab es in Fülle, doch für das Hanf bezahlte er den Waschbären mit dem Kreuz, das um seinem Hals hing seit er ein Kind war, und für den Feuerstein bezahlte er mit dem Ring seiner Ehe. 

So entblösst, machte sich der Ritter auf den Weg, erklomm den Berg, war ganz zuschanden, und mit zitternden Händen schlug er Funken aus den Felsen, entzündete die Fackel und suchte die große Höhle im Innern. 

Doch er fand sie nicht wieder. 

So löschte er die Fackel und begann erneut sich vom Eingang aus, diesmal blind wie sonst, tastend auf den Weg zu machen. 

Er fand den Eingang zur großen Höhle, richtete sich auf und zündete die Fackel ereut an. 

Da sah er den glatt behauhenen Felsen und den Block aus Eis vor sich

Und er sah durch den Block hindurch

So kristallklar war das Eis

so kalt und durchsichtig

wie das Chorfenster der Abtei. 

Und er sah sie. 

VI

Sie lag ausgestreckt und wie ruhig schlafend in dem Block aus Eis. 

Gewandet in einem weißen Kleid

die Haare gekämmt, die Lippen rot,

so lag sie da und etwas schnürte sein Kehle und seine Brust ein, denn sie war so nah und doch so weit 

und er küsste ihr auf den Mund 

auf die Stelle im Eis unter der das Rot des Mundes die Oberfläche des Eises zu durchglühen schien

doch es war kalt und seine Lippen klebten und er riss sie los und sein Blut tropfte aufs Eis, und traf aufs Rot ihrer Lippen.

Für einen Wimpernschlag schien ihm, das Eis schmölze und ihre Lippen formten ein Wort und ihre geschlossenen Augen würden sich langsam öffnen und im Erlöschen seiner Fackel glaubte er ihren Blick zu spüren

Doch dann war alles dunkel und aufschreiend stürzte er sich auf den Block, bedeckte ihn mit seinen küssen 

wie in Raserei riss er die lippen los vom kalten eis bis alle Haut und alle Empfindung aufgebraucht  und alles Blut auf dem Eis doch es half nicht es zu schmelzen. 

Dann kratzte er. Mit seinen Fingernägeln schabte er das Eis um ihren Mund doch es riss ihm nur 

die Haut von den Fingern, die Nägel brachen und bald waren Mund und Hände blutende Wunden und er brach erschöpft und weinend zusammen und fiel in einen tiefen Schlaf. 

Im Traum erschienen ihm die Waschbären. Die wuschen ihn und pflegten ihn und boten ihm an mit Feuer zu helfen. Im Tausch gegen das Letzte, was er hatte, sein Schwert. 

VII

Schweissnass am Fuße seiner Frau, so lag er da und dankte Gott für das Werkzeug, das dieser ihm im Traume gab. 

Abgemagert zum Skelett fast, fand er dennoch die Kraft, abzusteigen und Holz im Wald zu sammeln und Reisig und Harz. Er schichtete alles um den Block, schlug Funken und zündete es an und sah wie es brannte und wie seine Frau im warmen Licht des Feuers erglühte. Er schichtete Ast auf Ast, Reisig auf Reisig, und trotz der kathedralenartigen Höhe senkte sich der Rauch bald so tief hinab dass er nicht mehr atmen konnte doch er blieb und warf die letzten Hölzer 

und es war nun ein Scheiterhaufen der da brannte doch der Block aus Eis 

schmolz nicht blieb hart und kalt wie nur Eis hart und kalt sein kann. 

Der Ritter warf sich ins feuer 

und riss kratzend die Fingernägel durchs Eis, sie brachen

aber hinterließen nicht eine Spur. 

Das Feuer brannte ab. 

Kein Tropfen Schmelzwasser war zu sehen nur das orange glühende Eis und das erstarrte Gesicht seiner Frau schön wie nie

Und es schien ihm, dass in diesem Augenblick des tiefsten Gefühls der Ohnmacht, der vollständigen Machtlosigkeit, Gott zutrat 

wie einst zu Jonas und ihm neue Hoffnung spendete. 

In seiner Raserei hatte der Ritter nicht daran gedacht, dass er das machtvollste Werkzeug in den Händen hielt, um das Eis zu besiegen.

Das Schwert. Gott sagte es ihm nun. Zeigte es ihm. Führte seine Gedanken dorthin. So glaubte er.


VIII

Das heilige Schwert des Drachentöters, das Schwert, mit dem er jeden Kampf bestritten 

jede Schlacht gewonnen

das Schwert, das eine Bande wilder Räuber in die Flucht geschlagen und 

das dem Drachen den Kopf gekostet hatte – dieses Schwert war hier 

und dieses Schwert war dazu da die letzte große Schlacht zu schlagen,

den Block aus Eis zu teilen, 

seine Frau zurückzugewinnen. 

Das Feuer war verglommen. Ein letzter Blick, dann war es dunkel. 

Er tastete das Schwert, fühlte das Eis, stellte sich quer zu ihm und hob das Schwert und führte es mit beiden Händen mit einem Ruck zum Eis. 

Das Schwert zerbrach. 

Der Ritter stand da. Er spürte ein Gefühl der vollständigen Entleerung. Noch ehe er das, was vom Schwert geblieben, betastete, noch eher er prüfte, ob zumindest ein Riss im Eis entstanden, spürte er, wie das Blut aus seinem Herzen sank, wie es durch die Gedärme sank, austrat aus seinem Körper und sank auf die Knie, so wie er damals vor seinem König auf die Knie sank, um den Ritterschlag zu empfangen. 

Er sank auf die Knie, stützte sich mit den Ellbogen auf den eisigen Block hob die Hände, faltete sie 

und alles was das Echo seiner Stimme ihm zurückwarf war ein langer klagender Laut, der langsam verstummte. Was blieb war Schweigen und Verzweiflung. Doch die Verzweiflung des Ritters war so tief

dass sie ihren Namen verlor. 

XIX

Dann verwandelte der Ritter sich in etwas anderes. Etwas, was nicht dachte noch fühlte noch war. Etwas, was in der großen Höhle herumkrabbelte wie eine Schabe, Steine auflas, große wie kleine, felsige Brocken, und das Tier richtete sich auf und warf die Steine auf den Block aus Eis. Wieder und wieder, und wenn die Höhle Tag und Nacht gekannt hätte, wären es sechs Tage und sechs Nächte des Steinewerfens gewesen, nicht die Raserei des Ritters war es, sondern das mechanische Arbeiten einer Armee von Ameisen etwa. 

Doch am siebten Tag kam der Verstand zurück in das Wesen und der Ritter stieg hoch zu seiner Frau. Und stand lange vor ihr. 

Dann prüfte er das Eis erneut. Und er fühlte, sie war sicher, kein Riss war im Eis, keine noch so keine Unebenheit deutete die Möglichkeit des Endes ihres ewigen Wartens, deutete auf die Möglichkeit einer Befreiung. 

So war er endlich zufrieden. 

Selbst ein Drachentöter würde seine Frau nicht besitzen können. 

Was er nicht schaffte würde keiner schaffen. Er würde in die Höhle wiederkehren, mit neuer Fackel. 

Er würde sich sich ansehen.  

Schön wie am ersten Tag 

für alle Ewigkeit. 

So machte er sich auf den Weg des Abstiegs. Er war nun kein Ritter mehr. Niemand erkannte ihn. 

Er lebte im Wald von den Nüssen und Wurzeln, fing selten ein Tier, röstete es auf kleiner Flamme und verschlang es halbroh und blutig. 

XX

Der Ritter, der keiner mehr war, verbrachte die Tage und Teile der Nacht, das alte Holz von überall her zu sammeln, denn das Holz wurde an seiner Lagerstatt selten. Alle paar Wochen, wenn er ausreichend Vorrat hatte, schaffte er es hinauf in die Höhle. Mit jedem Aufstieg schaffte er zwei Bündel, gebunden auf dem Rücken, schwer wie ein kräftiger Mann. Die Augen des einstigen Ritters waren hohl, und glommen schwach und tief in ihren Höhlen. Ein Fieber hatte ihn gepackt, das ihn nicht mehr hergab. 

Zu jedem vollen Mond stieg er auf zu ihr. An jeder Ecke des Quaders aus Eis hatte er einen Haufen Reisig und Äste und schließlich Stücke vom Stamm. Er entzündete dann das Feuer sah seine Frau erglühen, küsste sie bis seine lippen keine Haut mehr hatten und stand so vor ihr und betete nicht mehr denn er hatte die hoffnung nicht mehr die hoffnung es gäbe einen Gott einen gütigen einen des Erbarmens oder sonst etwas Gutes auf der Welt. 

Er war allein. 

Allein mit seiner Frau. 

Das ging immer so weiter. 

Solange er lebte und das Holz tragen konnte, solange würde er aufsteigen zu jedem vollen mond und sie sehen. 

So lebte der Ritter der keiner mehr war, mit den Tieren und ein paar Waldbauern am Fuße des Berges, sieben Jahre lang, und er war alt geworden in dieser Zeit so alt dass seine Frau im Eis bald aussah wie eine Tochter, hätte er eine gehabt. So jung und schön, dass es seine Tochter hätte sein können, wenn sie Kinder gehabt hätten. 

XXI

Doch der Ritter freute sich bald nur noch über das Zunehmen des Mondes und empfand, das morsche Holz des Herbstes verbreite einen Geruch von Sommer wenn er es in der Höhle verbrannte und das brachte eine blasse Erinnerung an einen Sommertag, 

er mit ihr auf einem Hügel 

ein sanfter Wind und sie hielten sich einander die Hand und taten nichts als das – dieses Bild, 

gebunden an die morschen Herbstäste,

schwebte nun frei wie ein Geist aus der Flasche, dieser rauchige Duft,

durch die Kathedrale ihres ewigen Lebens.

Dieses Bild, aus so langer Vorzeit, begleitete ihn auch auf dem Abstieg. 

Er hielt sich an den Felsvorsprüngen. Alles war novemberklamm. Er stellte sich jeden noch so schmalen Grat und Vorsprung als ihre Hand vor, die ihn hielt, damit er nicht fiele oder stürzte. So hatte er die Sicherheit einer Gemse beim Klettern gewonnen und bewegte sich zäh und ohne Hast noch Erschöpfung. 

Angekommen in seinem Lager, holte ihn das Bild des Sommers ein. Auf dem Hügel, ihre Hand haltend, nichts als dies, und erstmals liefen Tränen, sie liefen über sein Gesicht, sie machten erst Rinnen in seine rußig schwarze Haut die Rinnen wurden breiter

und bald schon war sein Antlitz ein See aus grauen Schlieren wie die nördliche See im Spätherbst. So schwer wurde dann das Gefühl, wie nach einem langen warmen Sommer, der niemals wiederkehren würde. 

Und so stieg er auf, zum letzten Mal, um sich für immer an ihre Seite zu betten. 

XXII

Er hatte es längst vorbereitet. 

Ein letztes Mal würde er das Feuer entzünden. Ihr Gesicht sehen, das ach so geliebte, das Rot der Lippen, die für immer geschlossenen Augen, die sanften dunklen Wimpern, die geschwungenen Brauen. 

Wann hatte er ihr das letzte Mal in die Augen geschaut? Wann? 

Er erinnerte sich jetzt, in seiner letzten Stunde,  erst jetzt erinnerte er sich, er war nach Hause gekommen,

in ihr gemeinsames Heim, sie hatte den Platz vor dem Kamin gefegt, 

so fein säuberlich, wie es mit dem Reisigbesen nur möglich ist, 

und noch ein bisschen mehr 

mit dem Tuch des Schäfers

das sie sonst nur fürs Reinigen der Töpfe nutzte. Sie hatte den Platz vor dem Kamin für ihn bereitet

ihn erwartend, alles hatte sie getan 

ihn zu begrüßen. Er erinnerte sich jetzt daran, es war ein neuer Gedanke, den er nie zuvor hatte.

Damals, so erinnerte er sich, hatte er all das nicht gesehen. 

Er hatte auch nicht gesehen, dass sie ihr schönes Kleid an hatte. 

Sie hatte drei Kleider. Ein Kleid für den Alltag, eines für den Festtag und ihr Brautkleid, dass sie nur einmal getragen hatte. Damals trug sie ihr Festkleid. 

Und als sie fort war am Morgen danach, da waren ihre Kleider für Alltag und Fest im Schrank, aber das Brautkleid fort. 

Jetzt erkannte er es. Sie war in ihrem weißen Brautkleid wie sie da vor ihm im Eis lag. 

XXIII

Am Tag bevor sie verschwand

hatte er mit ihr geschlafen

doch er erinnerte sich nicht mehr

wie, und er erinnerte sich nicht mehr, was sie gesprochen aber er erinnerte sich an den Platz vor dem Kamin, der sonst vom Staub der Woche von der Asche des Feuers und dem Schmutz des Alltags gezeichnet war 

keine noch so geringe Spur von Schmutz , kein Aschenrest, kein Staubkorn war an diesem Tag vor dem Feuerplatz. 

Nur die beiden Sitzkissen, eines links und eines rechts vom Feuer, dort hätten sie sitzen sollen einander gegenüber. und sich ansehend, sich erkennend. 

Sie hatte ihm verziehen, dass er die goldene Rose vergessen hatte. 

Sie hatte ihm das immer wieder verziehen. 

Wenn er doch nur den Platz auf dem Kissen eingenommen hätte 

den sie so sorgfältig bereitet 

ihr gegenüber, wie sonst keinen Platz der Welt. 

Er erinnerte sich nun, wie schön er diesen Platz fand. 

und wie schnell er ihn vergass, weil er sie ins Bett trug

und wie er mogens aufwachte.

und sie nicht mehr da war. 

Die Feuer brannten. Diesmal nicht nur an den vier Ecken. Er hatte einen mannhohen Haufen aus Krüppelkiefer, Esche, Buche und altem Eichenholz aufgetürmt über dem Block aus Eis. 

Er würde auf ihr brennen

ein letztes Mal sie sehen

und stellte sich vor wie sie mit einem Mal ihre Augen öffnete 

ihn anzusehen. 

XXIV

Mit dieser Vorstellung überkam ihn eine bodenlose Verzweiflung die er nie zuvor verspürt hatte. 

Wie würde es aussehen wenn sie ihre Augen öffnete, wie sahen ihre Augen aus, wie sah es aus, wenn sie ihn ansah, waren ihre Augen dunkelgrün mit schwarz oder schwarz mit dunkelgrün, er hatte es vergessen 

und er würde es nicht erfahren 

er würde ohne ihre Augen sterben

doch so konnte er nicht sterben. 

er hat sich auf seinen Tod seitdem sie hier lag vorbereitet. Seitdem sie hier lag hatter er alles versucht, und nichts gelang, und seitdem hatte er sich auf seinen eigenen Tod vorbereitet, auf einen Tod an ihrer Seite, in der Hoffnung auf ein Leben im Jenseits, ein Leben danach, 

an ihrer Seite. Ein ewiges Leben. 

doch wie konnte er sie auf der anderen Seite finden wenn er nicht ihre Augen kannte. 

Das Knistern des Feuers verstummte 

Ein hoher Ton erfüllte seinen Kopf. 

Er kroch im Gefühl jener tiefen Verweiflung die nichts mehr kennt noch wahrnimmt, die sich wie ein Riesenkakerlak auf uns hockt und uns auf den Boden presst, in diesem Zustand kroch er auf allen Vieren auf das kalte Grab, sich verbrennend an Hand, Knie, Fuß, kroch zu ihr beugte sich über sie und vergoss endlich Tränen nicht blut nicht schweiss

nein bittere Tränen, fließende, und die Tränen tropften aufs Eis tropften auf ihre Wangen, ihre Stirn, ihre Wimpern –  wäre das Eis nicht trennend dazwischen gewesen, sie wäre

Sein Schmerz kannte keine Linderung. 

Die Tränen liefen aus ihm heraus, und es hielt nichts mehr zurück. 

was immer noch in ihm war an Körperlichkeit, floß jetzt aus ihm heraus und tropfte, strömte aufs Eis. 

XXV

Die Tropfen hinterließen eine Spur im kalten Eis. 

Molekül für Molekül wuschen die Tränen aus dem Eis. 

Nach Stunden hatten sich kleine Mulden gebildet. 

Nach Tagen tiefe Rinnen. 

Nach sieben Tagen rann die erste Träne auf ein ungeschütztes Augenlid, eine zweite aufs andere, und nach zwölf Tränen öffneten sich ihre Augen und sahen ihn an. 

Er nahm es nicht wahr. 

Seine gramgebeugte Gestalt hat sich die ganze Woche nicht einmal gestreckt. 

Er war allein steinernes Entsetzen

Entsetzen vor sich selbst 

und die Tränen, die ohne Unterlass aus seinen Augen flossen

erfüllten seine Sicht mit jenem Gischt der uns umgibt, wenn wir eine Wahrnehmung des Heiligen haben. 

So nahm er nicht wahr wie sie ihn anschaute unverwandt

mit ihrem Blick, der nicht wich noch blinzelte, obwohl seine Tränen ihre Augen netzten. 

ihre Wimpern senkten sich nicht

seine Tränenflüssigkeit konnte so ihre Augen befeuchten

die in Jahren der Starre ihren Glanz in der Kälte des Eises verloren hatten und ihn nun wiedererlangten

und dann sagte sie seinen Namen. 

Und dann hörte er sie. Er hörte ihre Stimme.  

Er hörte wie sie sprach zu ihm. 

Er wartete ob sie erneut  sprach. 

Er wartete ob Gott noch einmal sprach. 

Es war ihre Stimme, in der Gott zu ihm sprach. So dachte er. 

Doch sie sprach erneut seinen Namen aus. 

Und seine Tränen hielten an. 

Und als sie zum dritten Mal seinen Namen sagte, sah er sie. 

Er sah ihre Augen. 

Er sah in ihre Augen 

Es sah sie. 

XXVI

Die Augen waren Grün und Braun und Schwarz.

 In dieser Reihenfolge. 

und es war sie

es war sie 

nicht Gott 

es war sie die ihn sah und mit ihm sprach. 

Ihre Augen waren vom Eis befreit 

Ihr Mund aber geforen, gefangen im Eis. Dennoch hörte er sie, klar und deutlich, sie sprach seinen Namen.

Er dachte nicht daran, wie das möglich sei. 

Er hörte sie und hatte keine Zweifel

Er hörte sie obwohl sie Ihren Mund nicht bewegte

Er hörte ihre Gedanken. Er hörte zu. 

Er stieg ab. 

Er verband seine verkohlte Haut. 

Er wusch die Wunden. 

Er machte sich schön für sie. 

Alles hatte sich geändert. Mit Zunder und Holz machte er sich an den Aufstieg. 

Von da an wiederholte er die Zeremonie täglich, beugte sich über sie und schmolz das Eis mit seinen Tränen. Jeden Tag schmolz etwas mehr. 

Am dritten Tage bereits konnte er ihre Stirn küssen. 

Am fünften Tage in ihr Ohr flüstern. 

Am achten war ihr Mund frei. 

Doch durfte er sie küssen? 

Was wäre, wenn sie dann anhielte zu reden? 

Diese Ahnung, die in ihm aufkam, dass Küssen und Reden zwei Aufgaben des Mundes seien, die hier und jetzt sich einander ausschlössen, diese Ahnung kam von nirgendwoher. Sei war da, sie war sofort überall, und sie war klar. 

So widerstand er der Versuchung. 

XXVII

Am nächsten Tag sprach die Schildkröte zu ihm. Sie leckte vom Schmelzwasser und sang ein Kinderlied. Es war die Urenkelin der uralten Schildkröte. 

„fasst die hände euch und tanzt

Weil uns so vieles leichter fällt

Weil’s die Welt zusammenhält

Hand in Hand

So ist das Schwere halb so schwer

Freut uns das Schöne umso mehr

Hand in Hand

Nicht allein, ja, das tut gut

Unter Freunden wächst der Mut

Hand in Hand

Lasst uns singen Hand in Hand

Wie ein Band quer durchs Land

Durch den Regenbogen gehen

Sonne hinter Wolken sehen  

Hand in Hand“

So summte die kleine Schildkröte vor sich hin. Das Eis aber war unterhalb des Halses nicht geschmolzen. 

Mit seinen Tränen vermochte er nur ihren Kopf zu befreien. Sie sprach weiterhin nicht sondern redete zu ihm in Gedanken ihre Hände zu fassen war ihm nicht gegeben doch ehe er die kleine Schildkröte fragen konnte

was sie meine, ob ihr Gesang Bedeutung, und was er tun solle,

war sie fort.

Er blieb allein. Er grübelte lange. 

Dann fragte er sie. Es war das erst Mal, dass er sie etwas fragte.

Erst sagte er ihren Namen. 

Es war das erste mal dass er ihren Namen sagte.

Dann fragte er, was soll ich tun ?

Es kam keine Antwort. 

Er wiederholte seine Frage. 

Es kam keine Antwort. 

Er wiederholte, nun mit der intensiven Dringlichkeit jener Verzweiflung, die sich einstellt, wenn sie jäh von einem glückseligen Zustand abgelöst wurde.

Er erhielt keine Antwort. 

XXVIII

Doch er legte sich nun lang hin, berührte mit seiner Stirn die ihre,

bedeckte ihren Körper als sei er ein wärmendes Tier, legte seine Hände auf die kalte Oberfläche auf der Höhe ihrer Hände und bat erst sie 

dann sich dann alles um sich herum

um Hilfe. 

Zeit verging. Welten vergingen. Das Feuer brannte nieder. Dann hörte er leise fast unhörbar jedoch deutlich 

ein Tropfgeräusch. Das Eis schmolz 

es schmolz und ihre Hände näherten einander

er spürte eine Wärme in seinen Händen

die die Kälte des Eises nach und nach wandelte 

und als die letzte Schicht durchbrochen

fühlte er die erste Berührung seiner Hand mit der ihren

wie einen Strahl aus Feuer

und zuckte zurück

nur um sie sofort zu suchen 

und fest zu drücken. 

XXIX

„Mama Mama Mama“. Die Stimme des Kindes war aufgeregt. Es zeigte auf die Hand des Patienten, in der Hand seiner Frau, die ihm die Hand hielt. Und was das Kind sah, eine leichte Bewegung das Daumens, spürte die Frau  deutlicher, als eindeutigen Druck. 

Es war die erste Regung seit dem Unfall. Seitdem sie begonnen hatte mit ihm zu arbeiten. Kontakt mit ihm aufzunehmen, zu sprechen, an ihn zu denken, von ihm zu träumen, nicht von seiner Seite zu weichen. 

Die Kinder wurden von Freunden versorgt und regelmäßig gebracht. 

Doch sie war ihm nicht von der Seite gewichen. Und nun dieses Zeichen. 

Und gleich darauf zuckte auch seine andere Hand. 

XXX

Sie wusste, es wird dauern. Aber sie wusste, es hatte nun eine Richtung. Und zu ihrem nicht so großen Erstaunen war sie nicht nur froh, sondern auch beunruhigt. Vor nun 10 Tagen war er eingeliefert worden. Ein Unfall, der Wagen war von der Straße ab, hatte das Brückengeländer durchbohrt, war in die Tiefe gestürzt. 

Die Gründe warum er die Kontrolle verlor, waren unklar. Die Polizei hatte keine äußeren Ursachen feststellen können, es gab keinen Frost, kein Öl auf der Straße, keine Bremsspur deutete auf Gegenverkehr. 

Sie würde ihn irgendwann danach fragen müssen. Auch wenn sie die Antwort eigentlich wusste. Über etwas anderes war sie sich weniger klar. 

Der Scheidungstermin war in einem Monat. Durfte sie sich von ihm überhaupt scheiden lassen? Er war gefährdet. Sollte sie sich erpressen lassen? Sollte sie der Beziehung doch noch mehr Zeit geben? Einen letzten, einen wirklich allerletzten Versuch wagen? Riskieren, immer tiefer hineingezogen zu werden in seine Depression oder seine Sucht ode was immer es war was da mit ihm nicht stimmte? 

War sie herzlos? Hatte sie etwas versäumt? War sie die Ursache? Was konnte sie noch tun, was sie nicht schon Jahr ein Jahr aus versucht hatte? 

Und dennoch – sein Händedruck durchflutete sie mit einer Ahnung von Glück, so wie es einst immer war, wenn sie sich beührten. Ein pawlowsker Reflex, entkoppelt von der Realität ihrer zerbrochenen Ehe, unter der die Kinder ebenso litten wie sie und nicht zuletzt auch er selbst. Wann konnten sie endlich voneinander lassen, einander loslassen? 

XXXI

Jetzt loslassen? Was würde passieren, wenn er sich erinnerte, wenn er aufwachte und sich zuallererst an das eine, was über Ihnen schwebte, zuallererst an dieses eine erinnerte. Wenn er danach fragte? Was würde sie antworten?

Sie wusste es nicht. 

Sie hoffte, er würde ihr noch Zeit geben. Nicht so schnell zurückkommen. Die ganze Zeit war sie blockiert durch die Sorge die sie sich um ihn machte. Doch jetzt, da sie spürte, er würde leben, er würde aufwachen, jetzt konnte sie wieder daran denken. An all das, was vorher war. Der Unfall konnte nichts ändern, nichts an den Tatsachen, nichts an der Beziehung. Im Gegenteil, er hatte es alles einfach nur noch schlimmer gemacht. 

Sie wurde wütend

Er wollte sich aus dem Leben stehlen. 

Er wollte die Kinder allein lassen. 

Sie wurde traurig. 

Er tat ihr leid.

Aber manche Dinge sind unverzeilich, selbst im Angesicht des Todes. Denn es gibt Schlimmeres als den Tod. Den Schmerz derer, die übrigbleiben, mit ihrer Liebe, mit ihrem Leben ohne ihn, ohne einen Vater. 

XXXII

Als er ihre Hände spürte, schloss sich ein Kreis aus Energie, als wäre eine uralte Maschine, seit Jahren ohne Treibstoff, aus dem Stillstand angworfen und erst stotternd, dann kräftig in Rotation versetzt worden. 

Die Energie strömte erst in einem kleinen Kreislauf von Handteller zu Handteller, dann von einer Hand zur anderen, dann durch den ganzen Körper. 

Die Kälte wich langsam der Wärme. 

Das Spüren, der Geruch, das Hören, zuerst isolierte Wahrnehmung, schlossen sich die Impulse zu einem einigen Körpererleben. 

Das Eis zwischen ihren Körpern schmolz, es wurde dünner, bis das Schmelzwasser schließlich nur noch in Lachen in ihrem Bauchnabel, dem Becken und der Vertiefung des Schlüsselbeins blieb. 

Er trank davon. 

Ein bemerkte dabei so etwas wie ein Zurückweichen, ein Schaudern des anderen Körpers. 

Gleichzeitig sank seiner immer tiefer in den anderen, tiefer tiefer bis sie eins schienen. Ein Körper. Nun lagen seine Lippen auf den ihren.

Ein langer scheuer Kuss, Mund auf Mund, Lippen auf Lippen brachte alles zum Vorschein an Gedanken und Empfindungen die so lang verschüttet waren. Er erinnerte sich nun an alles. 

Und versank vor Scham. 

Was hatte er getan. 

Was? 

Es war etwas Unsagbares. 

Doch er konnte es nicht greifen. 

Nur das Gefühl, etwas Unsagbares getan zu haben, dieses Gefühl machte sich immer weiter in ihm breit. 

Dann fiel es ihm ein und die Höhle explodierte und er schlug die Augen auf. 

XXXIII

Sie spürte er würde ihr keine Zeit mehr lassen. Sie bat die Kinder draußen zu warten. Die Temperatur seiner Hand stieg jäh an, Geräte zeigten einen erhöhten Puls, die Gehirnströme schlugen aus, ein Zittern durchfuhr seinen Körper. Dann machte er einen tiefen Atemzug und öffnete die Augen. 

Es war still, bis auf die Geräte. Eine ganze Weile passierte nichts. Sie hielt immer noch seine Hand. Dann drückte er sie und sah sie an. Er sagte: „Es war kein Unfall“. Seine Stimme war schwach. Sie nickte traurig. „Ich wollte nicht sterben“. „Sondern?“ „Deine Aufmerksamkeit“. „Die hast du nie verloren“. „Aber nicht die eine.“ „Es geht nicht um die eine. Oder das eine.“ „Ich weiß“. „Du bist beinahe gestorben.“ „Wie lange lag ich hier“ „über eine Woche“. „wo sind die Kinder“. 

Sie bat die Kinder rein. Sie umarmten ihren Papa, küssten ihn, setzten sich zu seinen Füßen. Er weinte. Er empfand Scham. Unfassbare, unerhörte Scham. Wie nie. Er hatte einfach nur Glück gehabt. Es war nicht kalkulierbar gewesen. Das Risiko war zu hoch. Er hatte alle in Angst und Verzweiflung gestürzt. Er sagte: „Entschuldigt“.  Das war zuwenig. Aber es gab keine Alternativ zu dem zuwenig. Es würde das ganze restliche Leben lang zu wenig sein. 

Er spürte sie immer noch an seiner Seite, als er einschlief. Oder erneut ins Koma fiel. Er hatte sich noch nicht entschieden. Die Frage war nicht gestellt worden von ihm. Die Frage nach dem Scheidungstermin. 

XXXIV

Da lag sie in ihrem Brautkleid, und er der Länge nach auf ihr. Er stütze sich seitlich ab, sie nicht zu erdrücken. Dessen hätte es nicht bedurft. Sie wünschte sich den ganzen Druck seine Körpers. Das Eis war weg. Sie spürten einander. Er richtete sich auf. Sie richtete sich auf. Sie saßen nebeneinander auf dem Stein. Sie probierten wortlos, die Beine vor und zurück zu schwingen. Vor ging, zurück störte der Fels. Sie sahen das auch beim anderen und lachten sehr kurz auf. Er hatte alles, was er wollte. Jetzt wusste er nicht mehr weiter. Was tun? 

Da sagte sie: „Ich will das nicht mehr“

Er sagte: „Was soll ich tun?“

„Du bist der Mann“. 

„Ich weiß es nicht, Frau.“

„Spürst du mich“

„Ganz nah“

„Dann nimm meine Hand“. 

Er tat es. 

Spürst du was ich will?“

„Fort von hier“. 

„Ja, es ist dunkel und kalt. Ich will ans Licht, will die Sonne und die Luft“

Der Weg aus der Höhle war kein Weg für sie. Er hatte ihn trainiert, jahraus jahrein. aber das Risiko eines Fehltritts und Absturzes für Ungeübte war gross. 

Er musste einen anderen Weg finde. 

„Warte“, sagte er, und stand auf und wollte los. 

„Bleib“, sagte sie. „Lass mich nicht allein.“

„Aber es ist gefährlich“

„Aber es ist mit dir.“ 

Diese Art von Gemeinsamkeit kam im Denken des Ritters nicht vor. Er versuchte es sich vorzustellen. Er konnte es sich nicht vorstellen. Er beschloss, jeden Widerstand dagegen aufzugeben. Er war längst kein Ritter mehr. und das war gut so. 

Sie tasteten sich gemeinsam ans andere Ende der Höhle, sie leuchtete ihm in den kurzen Zeiten, wenn die Fackel brennen durfte, sie gab ihm die Hand und zog ihn eine Stufe hoch, er schob sie durch eine Öffnung und hoffte, dahinter wären keine Spinnen noch Fledermäuse. Angst machte ihr aber nichts, sie fühlte sich anders an als die einsame Angst. Angst verwandelte sich so in Sorge und Sorge in Zuversicht. Schritt um Schritt fanden sie gemeinsam einen weg aus der Höhle, er führte zur anderen Seite des Berges. 

Doch am Ausgang war ein Tier. 

Ein mächtiger Bär. Dem Bären knurrte der Magen. Sie hatten ihn aus dem Winterschlaf geweckt. Der Ritter aber hatte nicht einmal mehr sein zerbrochenes Schwert. 

Es wurde ein wütender ungleicher Kampf. Der Bär riss seinen Unterleib auf, zerriss die Muskeln seiner Obeschenkel, zerfleischte seine Waden, bis einen Fuß weg, die Knochen knirschten. Mit letzter Kraft umarmte der Ritter, die eigentlich keiner mehr war, doch jetzt doch wieder, den Bären um im Todeskampf mit ihm vom Felsen zu stürzten. 

Unten zerschellte der Bär auf einem Stein, der Ritter wurde durch den Bären gerettet, kaum am Leben, gelähmt, alle Rippen gebrochen und flach atmend, aber die Bärin allein lassend, allein und ohne Bären, und er glaubte an seinen Tod, er schien ihm so unausweichlich wie praktisch.

Da kam sie herangeflogen, mehr fallend als kletternd, zerrissen ihr weisses Kleid, und band mit weißen Fetzen die grausamen Wunden ab und zog ihn durch die Täler in den Bach im Wald. 

Dort pflegte sie ihn Tag um Tag, Nacht für Nacht. Er überlebte. Doch er war nutzlos geworden. Ein Ritter ohne Schwert, ohne Bein, ohne Kraft. 

XXXV

„Ich werde ihn nicht absagen“. Das klang brutal, aber er war vollkommen einverstanden. Tief in seinem Innern war die Angst, doch er ließ sie diesmal nicht zu nah an die Oberfläche. Er betäubte sie, indem er geschäftsmäßig tat und sie fragte: „Glaubst du, ich kann bis dahin wieder allein laufen“. 

Da verschattete sich ihr Gesicht. Natürlich, sie war die ganze Zeit an seiner Seite gewesen. Niemand hatte mit ihm gesprochen. Alle setzten darauf, dass sie es tat, dass sie ihm die Diagnose mitteilte. Sie tat es, indem sie ihn ganz fest ansah und berührte. Er sagte nur: Heisst das, wir können kein fünftes Kind mehr haben?“ Sie sah ihn an. Ein Hauch von Irrsinnn flackerte da in seinen Augen. „Übe mit dem Rollstuhl. Ich kann nicht länger. Ich werde solange bei dir sein, bist du zurecht kommst, aber ich kann nicht länger. Nicht mehr. Wirst du zurecht kommen?“

Sein Blick klärte sich, wurde fest und er versprach, er werde alles daran setzen. Und das tat er auch. 

Und ein paar Wochen später kam er im Rollstuhl zum Scheidungstermin, begleitet von einem Pfleger, aber schon bereits recht geschickt im Umgang mit dem neuen Fahrgerät. Er war voller Trauer und Unternehmungslust. Sie war voller Trauer und Verzweiflung. 

XXXVI 

Er konnte sich nun mit den Armen fortbewegen und schleifte seinen schlaffen Rest hinter sich her.  Er half ihr beim Essen beschaffen, er war passabel darin, Wurzeln und Käfer zu sammeln. 

Doch sie wollte ein Kind von ihm. 

Das stürzte ihn in die Melancholie. Warum sie keine Kinder gehabt hatten, wusste er bereits nicht mehr. Er hatte mit ihr geschlafen, mehr als einmal, doch es war nie dazu gekommen. Er hatte sich keine Gedanken gemacht, seinen abenteuerlichen Reisen tat es keinen Abbruch, ihre Traurigkeit darüber hatte er nie bemerkt. Doch plötzlich spürte er sie im ganzen Körper, die Traurigkeit. Und so rief er nach den Waschbären, die ihm allerleih geriebenen Majoran anboten, und Kräuter und geheime Tees. Doch es half nicht. Da rief er im Traum nach der Schildkröte, und sie erschien. Es war nach all der langen Zeit wieder die uralte Schildkröte mit ihrem uralten Wissen. 

Und die Schildkröte sagte: „Sie möge dich bringen in die Eishöhle. Sie lege dich auf den Felsen und Wasser wird auf dich tropfen und es wird zu Eis. Sie möge währenddessen dein Glied massieren bis die Tropfen ihn einfrieren auf dass er stehe wie ein Stalagmit. Sodann, wenn er vollständig vom Eis bedeckt und ewig eingefroren, reite sie den Stalagmiten bis er warm wird und schmilzt wie Eis in der Sonne und eine Feuchtigkeit in ihren Leib spendet. Sodann wird er geschmolzen und für immer fort sein. Er wird frei sein, und sie möge ihn jeden Vollmond besuchen. Und am neunten Mond soll sie aussetzen und Zwillinge gebären und am zehnten Mond soll sie einsame Bärin rufen, die, die ihren Bären durch sie verlor, damit sie ihre Kinder trage hinauf zu ihm. 

So tat er: Er erzählte es seiner Frau wie es gelänge. Sie wollte ihm aber nicht gehorchen. Da gab er ihr einen Trank der Schildkröte, und so verzaubert, schleppte sie ihn hoch in den Berg, legte ihn auf den Felsen und tat wie geheißen. 

Die Monde vergingen. Sie ward schwanger und besuchte ihn und sprach mit ihm. Am siebten Mond hörte sie ihn. Er sprach zärtlich zu ihr. Und sie sprachen miteinander. Am achten Mond war der Aufstieg sehr beschwerlich. Am neunten kam sie nieder. Und am zehnten rief sie die Bärin. 

XXXVII

Er hatte ein Glück, dass er nicht verdiente. Eine neue Operationsmethode setzte sein gequetschtes Rückenmark instand und nach einem weiteren Jahr konnte er wieder gehen, trotz der Prothese fürs linke Bein, das bei dem Unfall zermalmt worden war. Er war nun Vorsitzender des Basketball- und Völkerball-Rollstuhlvereins und organsierte günstige Rollstühle für Bedürftige in ostafrikanischen Staaten. Er erhielt einen Orden des Landes. Er beobachtet sie aus der Ferne. Sie war all die Jahre allein, und er sah ihr die Müdigkeit an, die sie am Abend befiel, wenn sie Familie und Arbeit geschafft hatte. Er wollte zu ihr, aber fühlte sich unnütz und unfair. Er ließ es bleiben. Eines Tages war ein Mann an ihrer Seite. Sie lachte erstmals seit vielen Jahren wieder, sie wirkte frei und gelöst. Er fragte sich, warum ihm das so weh tat. Vielleicht war es Eifersucht, obwohl ihm doch nichts weggenommen wurde. Doch auch wenn er keine Hoffnung auf eine Wiedervereinigung hatte, so hatte er sie doch immer als Teil nicht seines Lebens, so doch als Teil seiner selbst wahrgenommen. Als Teil seiner selbst hatte sie sich nun mit einem machtvollen Hieb abgetrennt und ihn und sich in die endgültige Selbständigkeit entlassen. 

Er wühlte in der Abstellkammer und fand den alten Rollstuhl. Er setzte sich hinein. Er fuhr damit auf die Brücke, die schon einmal sein Schicksal sein sollte. Er stand am Geländer, das noch immer nicht geflickt worden war und wartete, dass einer käme, der ihn übersähe. Doch als einer kam, ein Laster, breit genug, um bei Gegenverkehr nicht ausweichen zu können, sprang er in letzter Sekunde aus dem Stuhl und sah, wie dieser in fünfzehn Metern Tiefe zerschellte. Das hatte nichts mit Happy End zu tun, aber er wusste, was seine Aufgabe war. Er würde allen Essen bringen und nachts zurückgehen in die Höhle die ihm unbekannt und vertraut zugleich schien und von fernen oder nahen vergangenen Zeiten träumen. Da passierte vor seinen Augen ein Unfall. Ein Kind blutete. Seine Mutter schrie. Er musste sich entscheiden, Mutter oder Kind. Beide konnte er nicht retten. Er stillte die Blutung des Kindes. Der Schrei der Mutter verstummte. 

Da bat er um Hilfe. Er sah Tiere, die er nie zuvor gesehen. Sie erinnerten ihn an die Welt der Märchen, wo Gräßliches geschah und Wunder passierten. Doch die Mutter kam nicht zurück. Da flehte er um Gnade, doch die Mutter kam nicht zurück. Er heulte wie ein Hund, der seinen Herrn verlor. Entsetzen über ihre starren Augen, voll Mitleid bereits für die Waise in seinen Armen. Die Tränen tropften auf das Haar des Kindes, durchnäßten es, und tropften schließlich auf die Augen der Mutter. Er konnte es nicht sehen, noch das Kind. Aber die Augenlider der Mutter begannen zu flackern. 

XXXVIII

Zum zehnten Mond band sie die Zwillinge am Bauch der Bärin fest. Sie stiegen gemeinsam auf zur Höhle. Er hörte sie kommen. 

XXXIX

Die Mutter öffnete die Augen. Die Augen waren ihm vertraut. Er erkannte sie.